Berlin-Mitte
Mi. 12.01.2011, 19:30 bis 22:00
Vortrag
Die Aristokratie in Ungarn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Der ungarische Historiker Dr. Levente PÜSKI referiert über den langen Abschied von politischer und wirtschaftlicher Macht der ungarischen Aristokratie
Raum 125 im Neuen Stadthaus
Parochialstr. 3
10179 Berlin-Mitte
Berlin Brandenburg
Beschreibung:
Der Historiker und Dozent am Institut für Geschichte der Universität Debrecen Dr. Levente Püski, dessen Hauptarbeitsgebiet die Erforschung des ungarischen Adels ist, wird in seinem von Lichtbildern begleiteten Vortrag (mit anschließender Diskussion) con folgenden Eckpunkten ausgehen: Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts kann die Aristokratie als (eine) Elite innerhalb der ungarischen Gesellschaft betrachtet werden – wobei der Begriff "Aristokratie" zuerst einmal den Hoch- oder Hofadel und die führenden Vertreter des ungarischen Klerus umfasste, später auch die Magnaten im Sinne der Großgrundbesitzer und auch die Inhaber gesellschaftlich relevanter wirtschaftlicher Macht ("Wirtschaftsadel").
Der Hochadel war von Geburt an zur Mitbestimmung der Geschicke des Landes berufen und ab 1861 Mitglied in der Magnatentafel (ab 1861 dem Magnatenhaus als zweiter gesetzgebender Kammer neben dem aus Wahlen hervorgegangenen Abgeordnetenhaus - Zwei-Kammer-System des Ungarischen Reichstages/nach Habsburger Lesart des Ungarischen Landtages). Erste Anzeichen von Niedergang des Adels waren seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) zu bemerken, doch war nicht der Ausgleich die Ursache, sondern das Erstarken des Bürgertums mit seiner über Bildung erlangten Stellung in der ungarischen Gesellschaft und die aus wirtschaftlichen Interessen vorangetriebene Modernisierung durch den "Wirtschaftsadel". Über das Magnatenhaus - und über Mitglieder des niederen Adels, die häufig Komitate und Städte im Abgeordnetenhaus vertraten - behielt aber der Adel hohen politischen Einfluss.
Doch durch die Folgen des Ersten Weltkriegs wurde Ungarns Adel, vor allem die Aristokratie, in den Grundfesten erschüttert – der Grundbesitz als Machtbasis, soweit er in den mehr als zwei Dritteln der Gebiete lag, die durch den Trianon-Vertrag vom ungarischen Königreich abgetrennt wurden, und sogar der Stammsitz mancher Adelsfamilie gingen verloren, andere wurden von den Machthabern aus den neu geschaffenen Nationalstaaten vertrieben und viele verarmten, so dass sie den Lebensunterhalt in bürgerlichen Berufen finden mussten. Nicht jeder Adlige konnte einen vormals als selbstverständlich angesehenen Einfluss noch länger auf die ihm fremde Neugestaltung des ungarischen Staatswesens in der Nachkriegszeit ausüben, nachdem die Revolution und die folgende kurzlebige Räterepublik (21.03. bis 01.08.1919) die größten gesellschaftspolitische Umwälzung ausgelöst hatten. Dem Machtverlust der Aristokratie und des übrigen Adels entsprach der Machtgewinn der Mittelschicht und der unteren Klassen des Volkes. Dennoch konnte sich die ungarische Aristokratie über die Zeit retten: Sie verstand es, zu Beginn der 1920er Jahre wieder zu einer Elitegruppe in der Gesellschaft zu werden, wenn es ihr auch nicht gelang, an die überbordende Machtfülle und die eigene Bedeutung der Vorkriegszeit anzuknüpfen, vor allem weil es ihr wegen ihrer Verluste an Großgrundbesitz am bestimmenden finanziellen – und damit letztlich entscheidenden politischen – Einfluss im Wirtschaftsleben fehlte.
Einer umfänglichen Restauration aristokratischer Machtfülle stand die neue Zeit entgegen; deren weitere Entwicklungen und die fortschreitende Heterogenisierung der gesamten Adelsschicht führten sogar alsbald, und zwar ab der Mitte der 1930er Jahre, zu neuem Bedeutungsverlust. Denn vor allem die Aristokraten und manche zu Wohlstand und gesellschaftlichem Einfluss gekommene sonstige Adlige sahen sich massiven Angriffen aus verschiedenen politischen Lagern gegenüber – man warf ihnen ihre demokratisch nicht legitimierte Macht und die von ihnen betriebenen Be- und Verhinderungen der Bodenrefom vor. Wenn diese Diskussionen auch wenig unmittelbare Veränderungen bewirkten, so erschienen sie in späterer Betrachtung bereits als die Vorboten des nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich erfolgten gesellschaftlichen Umsturzes.
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